Der vorliegende „Travail de candidature“ rückt zwei Grenzgänger 1 der deutschen
Gegenwartsliteratur in den Fokus: Charlotte Roche und Heinz Strunk.
Roche löste 2008 mit ihrem Erstlingswerk „Feuchtgebiete“2, einem Sex-Roman (über diese
Gattungsbezeichnung wird im Folgenden noch zu diskutieren sein), einen regelrechten
Sturm im Blätterwald des Feuilletons aus. Den Ursachen für den von der Autorin bewusst
gesuchten Skandal soll demnach im Sinne des Untertitels („Über den Reiz des
Unstatthaften“) in dieser Arbeit nachgegangen werden. Im ersten Teil derselben wird dazu
zunächst mit Hilfe von Freuds sozialpsychologischen Gründen für die Sexualität als Tabu
und Foucaults historischer Diskursanalyse zur Sexualität das theoretische Fundament
gelegt. Ausgehend vom ambivalenten Tabu-Begriff und den daran anknüpfenden
Machtmechanismen des Sexualitätsdiskurses wird sich Charlotte Roches Werk-Trias
gewidmet werden. Die auf den Debütroman „Feuchtgebiete“ folgenden zwei Werke der
deutschen Autorin gleichen dem ersten in ihrem provokativen Ansatz, mit ähnlichen
weiblichen „Heldinnen“3, dem Handlungsaufbau und der Erzähltechnik derart, dass im
zweiten Teil auf eine streng separate Behandlung der Roche’schen Dreiheit verzichtet
werden kann. Ziel der Arbeit kann und soll demnach auch keine umfassende literarische
Analyse von Roches Büchern sein - dies wäre dem zeitlich gesetzten Rahmen des „Travail
de candidature“ nach auch nicht möglich.4
Vielmehr soll gezielt herausgearbeitet werden, wie sich der (u. a. mediale) Boom der
literarischen Inszenierung von Sexualität (und damit implizit verbunden: die Gewalt gegen
sich selbst und andere) und somit der Erfolg solcher Werke der Gegenwart erklären lassen.
Dass dazu natürlich auch die Mittel der literarischen Analyse herangezogen werden
müssen, unter anderem, um die Eigenheiten von Roches Darstellungen von Sexualität zu
ergründen, - dies nicht zuletzt deshalb, weil die literarische Auseinandersetzung dazu
dienen soll, das Urteil derer, die bei der Rezeption der Werke „Skandal!“ schrien und den
1 Vgl. für dieses Prädikat DÖRFELT-MATHEY, Tabea: Spiel nicht mit dem Schmuddelmädchen! - Über
literarische Grenzgänger und ihre Ausgrenzung am Beispiel von Else Buschheuers „Ruf! Mich! An!“ und
Charlotte Roches „Feuchtgebiete“. In: Aussiger Beiträge 4 (2010), S. 1.
2 Im Folgenden wird auf genaue Textstellen aus Roches Trias im Fließtext mit den Kürzeln R I für
„Feuchtgebiete“ (vgl. ROCHE, Charlotte: Feuchtgebiete. Roman. 26. Aufl. Berlin: Ullstein Taschenbuch
2013 [1. Aufl. der gebundenen Ausgabe 2008]), R II für „Schoßgebete“ (vgl. ROCHE, Charlotte:
Schoßgebete. Roman. 1. Aufl. München: Piper Verlag 2011) und R III für „Mädchen für alles“ (vgl. ROCHE,
Charlotte: Mädchen für alles. Roman. 1. Aufl. Berlin u. München: Piper Verlag 2015) verwiesen. Dahinter
stehen jeweils die genauen Seitenangaben in Klammern.
3 Auch diese Bezeichnung ist diskutabel, weil es im eigentlichen Sinne scheiternde Existenzen sind.
4 Aus diesem Grund muss (z. B. bei der umfassenden und komplexen Theorie Foucaults) des Öfteren auf
längere Fußnoten zurückgegriffen werden, die der vorliegenden Arbeit die nötige Tiefe (genauere
Textanalysen, unerlässliche Begründungen und weiterführende Gedanken) verleihen und gleichzeitig den
Lesefluss des Haupttextes garantieren sollen.
5
literarischen Wert der Werke in Frage stellten, zu überprüfen - soll deshalb keinen
Widerspruch darstellen.
An dieser Stelle der Arbeit findet dann auch Strunk seinen Platz. Dieser versuchte 2009
mit „Fleckenteufel“5 an Roches Erfolg anzuknüpfen. Der angedeutete Zweifel an der
„männliche[n] Antwort auf Roches Werk“ 6 ist berechtigt, was anhand der
Gegenüberstellung mit Roches Büchern, der eher schlecht als recht gelungenen Parodie
und des verhaltenen Rezeptionsechos im letzten Kapitel des zweiten Teils nachgewiesen
werden soll. Bei der vierten Werkbetrachtung dieser Arbeit soll sich demnach vor allem
auf das Relevanteste beschränkt werden, was die kritische Perspektive auf „Fleckenteufel“
anbelangt. Schon am Ende dieses zweiten Teils wird sich jedoch andeuten, dass sich
bereits in „Fleckenteufel“ (wenn auch noch sehr unausgereift in Form von collagenhaften
Wiederholungen) zeigt, dass Strunk eigentlich in eine andere Richtung hinarbeitet als
Roche.
In seinem 2016 erschienenen historischen Roman „Der goldene Handschuh“, der im dritten
Teil betrachtet wird, findet der Autor seine stilistische Qualität: Obwohl Strunks
unerträglicher Detailreichtum in den Schilderungen der Vergehen des Serientäters Honka
an seinen Opfern Roches Inszenierungen von Sexualität noch übertrifft, ist der Autor -
anders als Roche - 2016 laut Kritikern unisono im Kreis der „echten“ Literaten
angekommen. Er brilliert darin, seine Leser an die Grenzen des Zumutbaren zu führen,
gerade eben, weil er sich im Gegensatz zu Roche vom Spiel mit der autobiographischen
Folie zu lösen vermag. Dass und wie er es schafft, sich vom Vorwurf der Effekthascherei,
der Roche immer wieder ereilt, zu befreien, soll in diesem letzten Teil der Arbeit im
Zentrum stehen. Dies wird im Anschluss an die Ausführungen zu den Vorteilen der
Gattung des historischen Romans und zu den erzählerischen Kniffen des Werks geleistet
werden.
Die vorliegende Arbeit soll jedoch im Anschluss an den dank Strunks „Der goldene
Handschuh“ gewonnenen Einblick in die weiterführende literarische Qualität im
konstanten Spiel mit dem Leser nicht enden, ohne auch Roches Werk im allerletzten
Kapitel der Arbeit einen zusätzlichen Mehrwert zuzugestehen. Abschließend wird sich
demnach herausstellen, dass beide Autoren - Strunk rückblickend auf das Ende des 20.
Jahrhunderts und Roche als Bestandsaufnahme der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts -
5 Auf verwendete Textstellen aus diesem Werk wird (wie bei Roches Trias mit R I-III) mit dem Kürzel „S I“
(vgl. STRUNK, Heinz: Fleckenteufel. Roman. 1. Aufl. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009)
verwiesen. Für das im dritten Teil betrachtete Werk „Der goldene Handschuh“ dient dementsprechend „S II“
als Kürzel (vgl. STRUNK, Heinz: Der goldene Handschuh. Roman. 4. Aufl. Reinbek: Rowohlt Verlag 2016
[1. Aufl. 2016]).
6 DIEHL, Jörg: ,Comedy ist eklig’. In: Spiegel-Online vom 24. Oktober 2008. URL: http://www.spiegel.de/ku
ltur/literatur/komiker-heinz-strunk-comedy-ist-eklig-a-585958.html [Stand: 04.07.16] (C. H.).
6
Ähnliches leisten, nur dass v. a. aufgrund der unterschiedlichen stilistischen Qualität der
Werke die Rezeption grundlegend anders ausgefallen ist.7
Kurzum: Am Ende ist es eventuell nicht, wie man auf den ersten Blick denken würde, die
vulgäre Darstellung von Sexualität, welche die Leser an diesen Werken reizt.8 Vielleicht
stören sich die Rezipienten vielmehr daran, dass die Werke auf das (z. T. tief verborgene)
Unstatthafte in der Gesellschaft bzw. in ihnen selbst zurückzeigen.